19. Mai 2024
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Klassentreffen

Wenn man mich fragt, ob das Glas halb voll oder halb leer ist, muss ich nicht lange überlegen. Es ist grundsätzlich halb leer und bei genauerem Hinsehen stelle ich mitunter fest, dass vielleicht sogar vier Siebtel schon ausgetrunken sind. Warum sollte man sich darüber freuen, dass im gesetzten Alter von 40 Jahren noch Haare auf dem Kopf vorhanden sind, wenn man sich doch so schön über die wachsenden Geheimratsecken ärgern kann? Warum sich über das harmonische Familienleben freuen, wenn das junge Mädel am Ende des Tresens doch viel verlockender erscheint? Es ist anscheinend wirklich so, wie die alte Volksweisheit es verkündet: Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von guten Tagen. Wer auch zu einer gewissen Schwermut neigt, sollte sich das nächste Klassentreffen auf jeden Fall rot im Kalender anstreichen. Kaum zu glauben, dass seit dem Abi mittlerweile 20 Jahre ins Land gezogen sein sollen. Aber es muss ja so sein, denn sonst hätte sich unser Jahrgang am vergangenen Samstag nicht im Steakhaus zu einer kleinen Wiedersehensfeier getroffen. In das erste freudige Hallo, in die erste innige Umarmung mischte sich auch ein Hauch von „Die hat aber viele Falten bekommen“ und „Der ist aber kahl geworden“. Die Frage, ob das Glas halb voll oder halb leer ist, sollte an diesem feuchtfröhlichen Abend gar nicht erst aufkommen. Sämtliche Gläser waren nach kürzester Zeit komplett leer – und das war auch gut so. Je tiefer wir in unsere Becher schauten, desto tiefer wurden auch die Gespräche. Da war etwa der ehemalige Mitschüler, der sein Theologiestudium und den Wunsch, Pastor zu werden, ad acta gelegt hatte mit der Begründung, er glaube einfach nicht an Gott. Nun arbeitet er als Verwaltungsangestellter – uns ist damit eher mäßig zufrieden. Eine Mitschülerin klagte über ihren unerfüllten Kinderwunsch, während ihr Klassenkamerad nach der Scheidung von seiner Frau momentan mehr Zeit als gewünscht mit dem gemeinsamen Nachwuchs verbringt. Ein weiterer Schulfreund machte sich unlängst beim Psychiater vorstellig, um seine Depressionen in den Griff zu kriegen. Natürlich gab es auch den einen oder anderen, der mit sich und seinem Leben rundum im Reinen ist, aber das schien doch eher eine zu vernachlässigende Minderheit zu sein, mit der ich das Gespräch auch nicht weiter vertiefen wollte. Verstehen Sie mich nicht falsch. Es geht mir nicht darum, mich am Unglück der anderen zu ergötzen, es ist lediglich eine tröstende Erkenntnis, dass jeder „Erwachsene“ anscheinend sein Päckchen zu tragen hat. Dass die ganze Veranstaltung nicht zur Therapiesitzung ausartete, war nicht zuletzt einem ehemaligen Mitschüler und heutigen Schulleiter einer Berliner Brennpunktschule zu verdanken. Er hatte zu fortgeschrittener Stunde die anderen Gäste mit Pommes beworfen und wurde daraufhin des Hauses verwiesen. In fünf Jahren werde ich ihn und die anderen wiedersehen. Vielleicht etwas kahler und vielleicht etwas zufriedener. pa

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