29. März 2024
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Vive la France – Fußball-EM 2016

10. Juni bis 10. Juli 2016 – die Augen der Weltöffentlichkeit richteten sich auf Frankreich. Die Grande Nation war Schauplatz der 15. Fußball-Europameisterschaft und Triumphstätte des vierten Titels unserer Elf. Dem Magazin Lübecker Bucht liegen jetzt die privaten Aufzeichnungen des DFB-Busfahrers Willi Paschulke vor.

Sonntag, 12. Juni, auf einer Autobahn irgendwo im Nordosten Frankreichs: Im Reisebus herrscht ausgelassene Stimmung. Ein elegant gekleideter Mann in den 50er Jahren schnappt sich mein Mikrofon, um eine kleine Ansprache an die junge Reisegruppe zu halten. „Französische Restaurants sind besonders stolz auf ihre Schnecken. Zu Recht – ich bin schon oft von einer bedient worden“, sagt der Herr mit dem auffallend vollen Haar in gespannter Erwartung eines gellenden Gelächters. Als dieses ausbleibt, lässt er sich nichts anmerken – ganz Profi halt. „Hallo, ich bin der Joachim, euer Reiseleiter. In rund zehn Minuten erreichen wir Lille. Die europäische Kulturhauptstadt des Jahres 2004 verbindet flämische Tradition und französische Lebensart. Sehenswert ist der Grand Place mit der alten Börse. Die liebevoll restaurierte Altstadt mit ihren pastellfarbenen Häuserfassaden ist ein Paradebeispiel für die flämische Architektur des 17. Jahrhunderts. Hier steht auch das Geburtshaus von Charles de Gaulle…“ „Charlie wer? Kenn ich nich`“, unterbricht ihn ein Lausbub, der sich als Thomas vorstellt. „Nicht Charlie! Charles de Gaulle war der erste französische Ministerpräsident nach dem zweiten Weltkrieg“, klärt der geduldige Reiseführer den Gast in einer väterlichen Art auf. Dann erreicht der Bus sein Ziel. Die 23 jungen Ausflügler können es nicht erwarten, die Stadt zu erkunden und rennen sich auf dem Weg zum Ausgang fast gegenseitig über den Haufen. Joachim richtet noch einige mahnende Worte an die ungestüme Jugend. „Geht raus, habt Spaß, trinkt ein Gläschen Rotwein – aber übertreibt´s nicht. Wir haben um 21 Uhr unser erstes Spiel. Auch wenn der Gegner nur Ukraine heißt, erwarte ich volle Konzentration!“

Dienstag, 14. Juni, am südlichen Ufer des Genfer Sees: Wie sich herausstellt, handelt es sich bei der Reisegruppe um irgendeine Fußballmannschaft, die in Frankreich an einem Turnier teilnimmt. Der Auftakt scheint nicht so gut gelaufen zu sein. Das deftige Essen und der allzu verlockende Rebensaft hatten wohl ihren Tribut gefordert. Der Joachim beschließt, das Quartier seiner Jungs nach Evian zu verlegen – schließlich ist die Stadt an der Schweizer Grenze vor allem für ihr Mineralwasser bekannt.

Donnerstag, 16. Juni, nördlich von Paris: Der Joachim ist nach wie vor ganz schön sauer und verhängt eine Ausgangssperre. Während seine Kicker im Hotel die Wände anstarren, schaue ich mir das Städtchen Saint-Denis nahe der französischen Hauptstadt an. Die gleichnamige Kathedrale wird im Reiseführer als „Wiege der Gotik und wichtigste Grabstätte der fränkischen und französischen Könige“ beschrieben. Geweiht ist sie wohl dem ersten Bischof von Paris. Wenn man der Legende glauben schenken darf, hat der nach seiner Enthauptung auf dem Montmartre seinen Kopf unter den Arm genommen und ist sechs Kilometer nach Norden gelaufen, um dort tot zusammenzubrechen. Hier wurde der Herr namens Dionysius dann auch begraben. An gleicher Stelle wurde 475 eine Kirche errichtet. Joachim und seine Reisegruppe interessiert das natürlich nicht. Ich gehe zurück zum Hotel und fahre die Truppe gegen 21 Uhr zu ihrem nächsten Spiel.

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Montag, 17. Juni, Hauptstadt: Die gute Stimmung ist zurückgekehrt. Die Jungs haben sich nach der Auftaktschlappe am Riemen gerissen und gegen Polen gewonnen. Joachim ist zufrieden und hebt die Ausgangssperre auf. Mit dem hünenhaften Jerome und dem an einen Schuljungen erinnernden Mario erkunde ich Paris. Louvre, Sacré-Cœur, Eiffelturm – das typische Touri-Programm. Auf dem Friedhof Père-Lachaise hat sich eine Menschentraube um das Grab von Jim Morrison gebildet. Rauchende Teenies und in die Jahre gekommene 68er hinterlassen Blumen oder Kritzeleien auf dem Grabstein. Mario interessieren diese Huldigungen nicht. „Ich steh` ja mehr so auf Justin Bieber“, sagt er trotzig. Jerome entzieht sich schon seit einer Weile mit seinen dicken Kopfhörern dem Gespräch und tippt gelangweilt auf seinem Smartphone herum.

Samstag, 25. Juni, inmitten der Schlucht der Loire und dem Naturpark Pilat: Ich glaube ja, dass der müde Kick gegen die Nordiren am Dienstag im Prinzenpark pure Berechnung war. Durch das Unentschieden sind die Jungs Gruppenzweiter und dürfen heute in der mittelfranzösischen Industriestadt Saint-Etienne ran. Der Gruppensieger hätte in Lille gespielt. Da waren wir ja schon. Nun also Saint-Etienne, die Stadt auf sieben Hügeln liegt in der Region Rhône-Alpes. Ich genieße die außergewöhnliche Landschaft, wundere mich darüber, was im Musée d’Art Moderne so alles als Kunst verkauft wird, und verweile noch ein wenig in den zahlreichen Parks und Grünflächen der Stadt. Leider findet das entspannte Lustwandeln ein jähes Ende, als zahllose Schlachtenbummler die Stadt auf dem Weg ins Stadion Geoffroy Guichard unsicher machen. Etwas widerwillig schließe ich mich dem Zug an und lande in der Innenstadt am Boulevard Thiers. Da sind sie wieder, Joachims Mannen, die überlebensgroß auf einer riesigen Leinwand zu sehen sind. Viel verstehe ich nicht vom Fußball, aber so ein 5:1 gegen die Schweiz scheint eine klare Sprache zu sprechen.
Donnerstag, 30. Juni, an der Mittelmeerküste: Auf dem Weg nach Marseille ist die Klimaanlage im Bus ausgefallen. Die großen Flecken unter Joachims Armen zeigen die Temperatur besser an als jedes Thermometer. Oder hat er die Buxe voll? Immerhin geht’s für seine Elf heute gegen die Mannschaft aus Spanien. Ist wohl so eine Art Angstgegner. Wie auch immer, ich interessiere mich eher für Land und Leute und setze die Jungs am Stade Vélodrome ab. Das Stadion wurde von 2011 bis 2014 angeblich für schlappe 268 Millionen Euro renoviert – nur für dieses Turnier. Das muss man sich mal vorstellen. Mit seinen knapp 900 000 Einwohnern ist die bunte Mittelmeer-Metropole die zweitgrößte Stadt Frankreichs, die älteste sowieso. Im kleinen Hafen Vallon des Auffes probiere ich eine eine Bouillabaisse, in einer Imbissbude im ehemaligen Fischerdorf Estaque am Rande von Marseille genieße ich anschließend ein chichi frégi, ein knuspriges Gebäck aus süßem Brandteig. Lecker! Und dann wieder Fußball. Inmitten von 80.000 Zuschauern verfolge ich das Spiel auf einer Leinwand direkt am Strand. Die Angst schien unbegründet. Die Iberer werden mit 3:0 auf ihre Halbinsel zurückgeschickt.

Mittwoch, 6. Juli, am Zusammenfluss der Rhone und der Saône: Ich fange an, dieses Spiel zu mögen. Jogi – wir sind inzwischen per du – hat mir Karten für das Halbfinale in Lyon geschenkt. Mit Italien wartet noch so ein Angstgegner. In der VIP-Loge hat sich alles versammelt, was Rang und Namen hat. Die Verköstigung ist natürlich inklusive. Nach einigen Flaschen des ausgezeichneten Beaujolais fange ich an zu randalieren. Kurz vor dem Anpfiff fallen mir die Augen zu.

Sonntag, 10. Juli, nahe der Hauptstadt: Mann, war der Joachim erregt, als er mich gemeinsam mit dem Manuel aus dem VIP-Raum tragen und anschließend den Bus selber ins Quartier fahren musste. Wie sauer der erst gewesen wäre, wenn Manu nicht die drei Dinger im Elfmeterschießen gehalten hätte. Ich gelobte Besserung und besann mich auf meinen Job. Am Finaltag fahre ich die Jungs zurück zur alten Wirkungsstätte. Das Stade de France in Saint-Denis platzt mit über 80.000 Zuschauern aus allen Nähten. Ich verfolge das Spiel gegen den Gastgeber am Fernseher auf meinem Hotelzimmer. Immerhin wartet morgen noch eine lange Busfahrt auf mich. Außerdem sagte der Jogi irgendetwas von einem landesweiten Stadionverbot. Sei´s drum, ich drücke meiner Reisegruppe die Daumen. pa

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